Der Begriff der Work-Life-Balance impliziert, dass man die beiden getrennten Bereiche Arbeit und Leben gegeneinander ausgleichen soll. Damit stehen sich Arbeit und Leben als Gegenpole gegenüber. Ich persönlich erlaube mir, den Gedanken von Arbeit und Leben als Antagonismen abzulehnen… und gewinne damit unendliche Freiheit.

Ich erlaube mir, die Arbeit als Teil meines Lebens zu betrachten. Nicht nur das, sie ist für mich sogar ein wichtiger Teil des Lebens. Sie steht für soziale Teilhabe und gesellschaftliche, wie auch kulturelle Interaktion und Integration. Während meiner Arbeit tausche ich mich aus, arbeite mit Kollegen gemeinsam an Problemen, erlebe Erfolg und Frustration, unterstütze und gestalte, ärgere mich, finde Inspiration und darf wunderbare Menschen kennen lernen (ok, die Anderen gibt es auch). In der Regel stehe ich morgens gerne auf und freue mich auf den neuen Tag. Es gab Zeiten, da habe ich mich fast dafür geschämt, Arbeit als etwas Positives zu empfinden. Tatsächlich ist dem aber so. Und tatsächlich schaffe ich es abends oder vor der Arbeit noch ins Sportstudio. Nicht so häufig wie ich möchte, aber das liegt eher an meinem inneren Schweinehund.

Der Vorteil ist, ich lebe den ganzen Tag und ich kann den ganzen Tag ICH sein. Und das mit all meinen Macken, Kanten, Stärken und Schwächen. Ich hoffe, dass niemand über mich sagen wird „aber privat ist Frank Wiekhorst ganz anders“. Das wäre für mich wie eine Diagnose von Bewusstseinsspaltung oder Schizophrenie, wie wohl der Fachbegriff lautet. Ich habe ein Leben und möchte dieses Leben auch als Ganzes führen und nicht segmentiert. Mag sein, dass Psychologen mir in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Rollen zuschreiben. Ich erlaube mir, mich nicht aufzuspalten in Berater-Frank, Vater-Frank, Ehemann-Frank, Freizeit-Frank und so weiter. Ich bin einfach Frank Wiekhorst. Immer!

Ich gebe zu, dass ich mich mit ein wenig Häme über all jene amüsiere, die im Zuge des Ausgleichs zum Arbeitsleben nun ihre Freizeit organisieren. Offensichtlich der reinste Stress. Besonders unterhaltsam ist hierbei der Trend zur Selbstoptimierung und Life-Hacks. Morgens kalt duschen, eine kurze Yoga-Einheit, Bio-Frühstück, ein wenig Content für die sozialen Medien und auf dem Weg zur Arbeit einem Hörbuch zum Thema „Achtsamkeit“ lauschen. Abends dann Fitness-Studio, Meditations-App und eventuell noch eine Stunde „Waldbaden“. Wer es sich leisten kann, der investiert in einen Life-Coach und beginnt mit der Transformation zu seinem wahren Ich.

Statt einfach mal loszulassen, fühlen sich viele dazu verpflichtet, ihre freie Zeit möglichst effektiv zu nutzen und persönliche Ziele zu verfolgen. Wen wundert es, dass dieser ständige Druck zu einem Gefühl der Unzulänglichkeit führt. Spätestens wenn eigene Kinder auf der Bildfläche erscheinen explodiert das Konzept. Sinnvolle Freizeit kann es auch sein, auf der heimischen Couch zu sitzen, eine Tüte fettiger Chips zu verknabbern und Stunden lang die Muster der Raufasertapete zu analysieren.

Meine Empfehlung: Haben Sie Spaß an ihrem ganzen Leben. Nicht jeder Job ist ein Traumjob. Das weiß ich nur zu gut. Aber wenn Ihnen all ihre Kollegen auf die Nerven gehen, Sie im Job nicht lachen können, Sie sich jeden Morgen aus dem Bett quälen müssen, dann hilft auch die beste Work-Life-Balance nicht. Finden Sie etwas, das sie gerne tun, wo Sie sich auf die Mitmenschen freuen können. Wenn Sie nur für die Freizeit leben und in dieser auch noch die vermeintlichen Erwartungen einer auf Social-Media getrimmten Gesellschaft erfüllen wollen, dann ist der Frust vorprogrammiert.